Der öffentliche raum am seeufer: über die inseln

eine kritisch-historische phänomenologie des züricher seeufers

von Lorenz Kocher, 2004

Von einer stadt am wasser geht eine besondere faszination aus. Im letzen jahrhundert hat sich das gesicht zum wasser vieler europäischer städte entscheidend gewandelt: das gewässer als reine energieressource, nahrungsquelle oder transportweg hat an bedeutung verloren und hat als erholungs und freizeitraum sowie durch aufkommende touristische aktivitäten neue aspekte erhalten. Dementsprechend hat sich auch die ausrichtung der stadt zum wasser verändert. Jede epoche mit ihrer kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen prägung, leistet ihren beitrag dazu, wie sich eine stadt als generationenprojekt weiterentwickelt. jede bewegung, jedes umgestalten einer gewachsenen stadt, löst in ihrem dynamischen spannungsfeld eine gegenbewegung aus.
Die beziehung des stadtkerns von Zürich zum seebecken und den uferpromenaden ist eine mehrdeutige. Die Limmat als introvertierter stadtraum ist dicht mit der stadtstruktur verflochten, an der rathausbrücke löst sich die trennung zwischen fluss und stadt vollends auf. Stadbildprägende gebäude wie das grossmünster und selbst das eigentlich am see gelegene opernhaus beziehen sich auf den fluss. Im gegensatz dazu erscheint der extrovertierte seeraum als von der stadt losgelöst. Obwohl der see seit der ersten grossen wachstumsphase ab der mitte des neunzehnten jahrhunderts verstärkt ins blickfeld der stadt gerückt ist, fehlt bis heute eine eindeutig städtische haltung. Besonders bürkliplatz und sechseläutenwiese in ihrer funktion als brückenkopf und stadtscharnier zugleich lassen eine angemessene ausformulierung schmerzlich vermissenssen.

Der übergang von dichten, städtischen bebauungen zu den seeanstossenden, durchgrünten vorstadtgebieten findet beim zürcher seebecken ihren ursprung im umgang mit den seenahen, öffentlichen räumen. Die öffentlichen grünräume der uferpromenade sind von einem städtischen kontext losgelöst. Der begriff der insel, anhand von zwei beispielen im bereich der quaistrassen an see und Limmat, illustiert diesen umstand programmatisch. Die bauschanze als überbleibsel der barocken stadtbefestigung befindet sich im introvertierten stadtraum der Limmat. es handelt sich um städtisches grün, das der klar definierten uferkante des stadthausquais mit seiner im mehrfachen sinne geschlossenen jahrhundertwendebebauung eindeutig vorgelagert ist. Eine projektierte, aber nicht zur ausführung gekommene insel vor dem guisanquai hätte sich im extrovertierten seeraum befunden, ihre amorphe, der natur entliehene form ist astädtisch. Die sorge, sie würde die aussicht vom quai auf die alpen versperren stand ihrer realisierung im wege. Der bürklipark, dem sie auf diffuse weise vorgelagert worden wäre, stellt strukturell ebenfalls eine insel im gefüge des uferraums dar, durch die starkbefahrenen quaistrassen, deren städtische aussage sie durch minigolfanlagenhafte landschaft im kleinen konterkariert, von der stadt abgeschnitten. Auch in Genf befindet sich an der analogen stelle eine solche insel im uferraum, der jardin anglais. Da die geschlossene bebauung der quais aber um sie herum und weit über sie hinausgreift, erscheint er nicht als störung des urbanen gefüges sondern ähnlich der bauschanze als urbane insel, die der stadtkante vorgelagert ist. An bürkliplatz und utoquai kommt es ebenfalls zu solch einer strukturellen inselbildung. die promenaden und aussichtspunkte am seeufer werden durch den verkehr von der stadt abgeschnitten, stadthausanlage und sechseläutenwiese verlieren dadurch ihren bezug zum see und werden zu einem wenig frequentierten hinterland. Im spannungsfeld dieser kleinteiligen einzelaussagen werden die spezifischen infrastrukturen wie die quaianlagen ihrem grossstädtischen charakter nicht gerecht.

Bewegung und gegenbewegung, die zu ende des neunzehnten jahrhunderts die entstehung und die bis heute bestehende form der züricher seefront geprägt haben, sind die abweichenden definitionen des sees als verkehrsinfrastruktur und als touristisches kapital. Hauptprotagonisten dieser kontroverse sind die ingenieure Kaspar Weltli und Arnold Bürkli. Weltli als angestellter der Schweizer Nordostbahn lenkt als erster die aufmerksamkeit seiner zeitgenossen auf das noch unentwickelte seeufer. Seine als eiserner ring in die geschichte eingegangene planung sieht eine bahnlinie entlang des seeufers vor, die den seekopf eingeschnürt und der stadt den zugang zum wasser verstellt hätte. Als stadtingenieur kommt Bürkli die aufgabe zu, den bedenken von stadtverwaltung und bevölkerung gegen diese bahnlinie durch eine gegenplanung form zu verleihen. Bürkli erkennt ebenfalls die notwendigkeit einer auf lange zeit ausreichenden verkehrsinfrastruktur für die grossstadt, die zu werden Zürich sich zu dieser zeit aufmacht. Gleichzeitig versucht er, den widerstrebenden wünschen der Stadt und der Investoren nach weltstadtallüren und naturidyll gerecht zu werden.

Bezeichnenderweise bleibt ein nach erfolgter einigung zwischen stadt und bahngesellschaft über eine neue streckenführung ausgerufener wettbewerb für die neuen quaibauten ohne überzeugendes ergebnis. Als stadtingenieur kommt Bürkli die aufgabe zu, die gewünschte wollmilchsau aus metropole und waldeinsamkeit zu projektieren. Diese gratwanderung führt schliesslich zur herausbildung der heutigen situation, einer übergewichtung der verkehrsinfrastruktur und bildung von städtischem freiraum in form von inseln.

Die heutige situation stellt im doppelten sinne ein versagen in der praktischen umsetzung der strategie, die den uferurbanisierungsplanungen Bürklis zugrundeliegt, dar. Sowohl begründung als auch finanzierungsgrundlage für die quaibauten war die verdichtete bebauung der profitablen uferzone. Ein grosser teil der für die aufschüttungen des ufers und die neuen quaimauern veranschlagten kosten sollen durch den verkauf von bauland in erster lage entlang der uferstrassen und die darauffolgende besteuerung der liegenschaften abgedeckt werden. Dadurch halten die ausgaben für die stadt und die angrenzenden kommunen sich vergleichsweise niedrig. Die angestrebte erweiterung des stadtzentrums zur seefront geht, durch zu geringen druck der stadt zum wasser, allerdings nur sehr langsam voran. Spätere erweiterungen der seeuferanlagen nach süden geben schliesslich die städtischen ambitionen zugunsten öffentlicher parkanlagen auf.

Nicht nur an den entscheidenden punkten von bürkliplatz und sechseläutenwiese ist die notwendige städtebauliche artikulation nicht vorhanden, es fehlt allgemein eine eindeutige stadtkante entlang des seeufers. Zürich hat aufgrund fehlendem rückhalt der uferbebauungen keine eigentliche seepromenade gebildet, wie dies beispielsweise in Genf der fall ist. Eine raumbildende bebauung mit mondänen hotels und appartmenthäusern, wie sie in Genf die seefront definiert, ist höchstens in ansätzen vorhanden, absurderweise verschwindet die konsequenteste ausbildung einer solchen, rentenanstalt, rotes und weisses schloss, hinter den bäumen des bürkliparks. Die bebauung des abschnitts zwischen kongresshaus und quaibrücke, der zumindest eine städtische quaisituation besitzt, löst sich in suburbaner kleinteiligkeit auf.

Bereits während dem quaibau und der unmittelbar darauf folgenden zeit ist man sich des widerspruchs zwischen grossstädtischem anspruch und seiner nicht angemessenen umsetzung bewusst. Das augenmerk richtet sich vor allem auf den ungelösten übergang zwischen see und Limmat an bürkliplatz und bellevue. Stadt und private investoren projektieren eine fülle von eindrucksvollen bauvorhaben, die dem repräsentationsbedürfnis der damaligen zeit entsprechen, so zum beispiel ein kunsthaus wahlweise auf dem bürkliplatz oder der sechseläutenwiese. Besondere faszination geht von einem projekt aus dieser zeit für ein grossstädtisches galeriegebäude am bellevue aus. Wäre es gebaut worden, hätte sich Zürich zumindest in dieser hinsicht in eine reihe mit Paris oder Mailand stellen können. Die seeuferbebauung hätte gerade an der sensiblen brückenkopfsituation zwischen see und fluss die notwendige gewichtung erfahren. Provinzielle kurzsichtigkeit seitens der stadtverwaltung, die zunächst die entwicklung des verkehrs an dieser stelle abwarten will, verhindern es. Auch die meisten anderen projekte scheitern am nur langsam voranschreitenden wachstum der innenstadt zum seeufer. 1915 findet der wettbewerb Gross Zürich statt, dem seeufer kommt dabei wieder eine wichtige schlüsselrolle zu. Das gedankengut der jahrhundertwende, aus dem die quaistrassen entstanden sind, findet in den wettbewerbsentwürfen seine fortsetzung. Lösungen für die probleme der stadt werden noch immer als weiterführung bestehender strukturen begriffen, massige stadtblöcke, die wie verwurzelt im fluss des aufkommenden verkehrs stehen. Mit dem bevorstehenden durchbruch des gedankenguts des modernismus verliert sich diese haltung bald darauf.

Nach diesem halbherzigen vorstoss an den see zu ende des neunzehnten und anfang des zwanzigsten jahrhunderts zieht die stadt sich spätestens seit der landesausstellung 1939 wieder zurück, statt dem versuch einer mondänen seefront bestimmen eine abrückung vom wasser und die renaturierung der uferzonen die weitere entwicklung. landiwiese und zürichhorn präsentieren sich nach abbau der ausstellung als platonisches ideal einer unberührten seelandschaft. Diese haltung wird auch für die folgenden idealentwürfe bestimmend. An die stelle des blockhaften früherer planungen tritt bandartiger grünraum mit solitären einzelelementen, so zum beispiel 1935 bei Ludwig Hilberseimer, wo eine auflösung zwischen stadt und see angestrebt wird. Werner Müllers seeparkprojekt von 1956 schliesslich hätte durch ein weiteres vorziehen der uferlinie am seekopf den zusammenhang zwischen stadt und see vollkommen zerstört.

Im gegensatz zu den visionen der planer, eine einheit zu schaffen, verstärken die tatsächlichen massnahmen seit dem bau der uferstrassen ihre vorhandenen probleme noch zusätzlich. Durch die starke zunahme des verkehrs und den damit einhergehenden wiederholten ausbau der fahrbahnen rücken die inseln der ufernahen freiräume immer weiter ins abseits. Die gestaltung der freiräume selber als attraktive aufenthaltsorte hat eher den charakter von flickwerk. Betrachtet man die einzelnen elemente näher, lösen sie sich vollständig in kleinteiligkeit auf. Die aus der entfernung noch eindeutig wirkende form des utoquais wird aus der nähe nicht mehr spürbar, unmotivierte betonmauern und unstädtisches gestrüpp bestimmen den eindruck. Bis hinein in die stadtoberfläche wirkt sich diese inkonsequenz aus, der kartoffelacker der sechseläutenwiese und die parkplatzartige asphaltfläche der stadthausanlage bringen stadrandtypologien in die innenstadt. Immer wieder werden im verlauf der seeuferbebauung ursprünglich grosszügig gedachte projekte nur in ansätzen realisiert oder heruntergebrochen durch kleinstädtische eingriffe. Dass Zürich einem hollywoodregisseur zu provinziell erschien, um sich in einem film selbst darzustellen, ist in dieser hinsicht von konsequenter absurdität.

Nicht nur als die quais um die letzte jahrhundertwende gebaut wurden fehlte in Zürich der mut zu einer städtischen aussage, bis heute führt sich die diskrepanz zwischen der notwendigkeit einer raumgreifenden planung und gestückelten verlegenheitslösungen fort. Im fall der züricher seeuferbebauung hat die überlagerung unterschiedlicher typologischer und historischer strukturen nicht zu einer organischen komplexität sondern zu unstrukturierter willkür geführt. Dieser zustand kann sich erst dann ändern, wenn der stadtraum des zürichsees, der trotz seiner diffusen ausformulierung das bestimmende element der stadtgestalt darstellt, von planern, stadtverwaltung, investoren und bürgern in seiner gesamtheit begriffen wird.



Lorenz Kocher
Dipl. Arch. ETH/SIA, MSc ETH Bau-Ing.

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Bibliografie